Montag, 19. März 2012

Laufen lernen. Teil2.

Walti, den viele kennen würden, würde ich seinen Nachnamen nennen – aber er mag es lieber inkognito, also bleibe ich beim Vornamen, mit dem blossen Hinweis darauf, dass er zwölf Mal oder so Blackpool-Sieger war – Walti kommt mich manchmal besuchen. Wir trinken Kaffe, er bringt Gipfeli mit und wir unterhalten uns über Sinn und Unsinn im Tanzgewerbe. Vor dem Tango tanzte ich Standard/Latin und er tanzt jetzt manchmal Tango, so können wir uns mehr oder minder verstehen.
Bevor der erste Kaffe fertig ist, geraten wir uns, zumindest mit der Sprache, an die Haare. Unser erstes heftiges Streitthema waren die Vorwärtsschritte. Walti war für Fersenschritte - so, wie im Leben. Ich war für Ballenschritte.

”Was ist natürlich?” fragte Walti. ”Wie läuft der Mensch nach vorne? Über den Ballen oder über die Ferse?”
”Über die Ferse.” Antwortete ich. ”Aber beim Tanzen ist es anders.”
”Wieso?”
”Einfach so.”
”Eben nicht. Es ist nicht anders. Wenn man den Fuss streckt, um über den Ballen zu laufen, spannt man das freie Bein an. Völlig unnötig. Der Schritt wird weniger schön.”

Danach schauten wir uns youtube-Videos an. Wir fanden beide Beweise. Ich für meine Theorie, Walti für seine. Es schien keine wirkliche Lösung zu geben, na ja, es schien nicht nur. Es gibt keine. Der Mann kann im Tango über Ferse oder Ballen vorwärtslaufen. Trotzdem machte ich eine 180Grad Wendung. Ich würde nie wieder Ballenschritte unterrichten.
Walti hatte Recht. Nicht immer, versteht sich... Mit den Fersenschritten aber schon. Auch nicht ganz. Aber es ist so: ein ausgebildeter Tänzer kann wunderschön über den Ballen nach vorne laufen, wie eine Katze. Jemand, der gerade lernt, Tango zu tanzen, und noch nie in seinem Leben getanzt hat, kann das nicht. Um ehrlich zu sein: Ich habe es in keinem einzigen Fall geschafft, einem erwachsenen Mann schöne, überzeugende Ballenschritte beizubringen. Aber: schöne Fersenschritte sind in keiner einzigen Hinsicht weniger schön. Im Gegenteil. Sie wirken echter und ... na ja, männlicher. Carlitos Espinoza, der Tänzer, den ich zur Zeit am meisten bewundere (ok, nicht zuletzt darum, weil man Javier Rodriguez und Geraldine nicht mehr in Echtzeit bewundern kann...) – Carlitos läuft immer über die Ferse. Nicht, weil er es nicht anders könnte. Sondern, weil es verdammt gut aussieht. Schöne, lange, entspannte, natürliche Schritte. In perfekter Verbindung mit der Partnerin. Gibt es etwas Besseres? Ich glaube nicht.

Wenn ich meinen Schülern das Laufen beibringe sage ich heute: lauft. So wie immer. Ich lasse sie, mit der Frau am Arm, nach vorne laufen, so, als gingen sie an einem schönen Sommernachmittag zum See. Entspannt, aber zügig. Das tolle ist: DAS können sie schon. In perfekter Verbindung mit der Frau. Sie können anhalten, sie können wieder loslaufen. Wenn sie das machen, was sie immer gemacht haben und nicht versuchen, den Oberkörper nach vorne oder nach hinten zu neigen, das Bein so oder so zu schwingen, den Solarplexus zu verschieben. Die Herausforderung liegt darin, immer noch das Gleiche zu tun, auch wenn die Frau davorsteht, einen umarmt, und nach hinten laufen muss. Denn DAS ist nicht natürlich: jemanden vor sich zu haben und in diese Person reinzulaufen. Die meisten Männer entwickeln vielfältige Strategien, um NICHT in die Frau reinzulaufen: breitspurig gehen. Winzig kleine Schritte. Hintern raus strecken. Es gibt Männer, die tanzen seit zwanzig Jahren, schieben mühevoll ihre Sacadas, knorzen die Giros, lernen immer neue Figuren dazu. Aber es wird nie gut, denn sie haben es nicht geschafft, die erste grosse Hemmung zu überwinden: nach vorne laufen. In die Frau hinein. Den Platz der Frau mit jedem Schritt einnehmen. Denn: sie läuft zurück. Wenn man ihr ausweicht, kann sie keine schönen Rückwärtsschritte machen. Der Trick ist: nicht in den Standfuss reinlaufen. Das tut weh. Aber der freie Fuss, der geht weg. Um schön beieinander zu bleiben, muss man ihn suchen. Nicht meiden.

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