Montag, 19. März 2012

Laufen lernen. Teil2.

Walti, den viele kennen würden, würde ich seinen Nachnamen nennen – aber er mag es lieber inkognito, also bleibe ich beim Vornamen, mit dem blossen Hinweis darauf, dass er zwölf Mal oder so Blackpool-Sieger war – Walti kommt mich manchmal besuchen. Wir trinken Kaffe, er bringt Gipfeli mit und wir unterhalten uns über Sinn und Unsinn im Tanzgewerbe. Vor dem Tango tanzte ich Standard/Latin und er tanzt jetzt manchmal Tango, so können wir uns mehr oder minder verstehen.
Bevor der erste Kaffe fertig ist, geraten wir uns, zumindest mit der Sprache, an die Haare. Unser erstes heftiges Streitthema waren die Vorwärtsschritte. Walti war für Fersenschritte - so, wie im Leben. Ich war für Ballenschritte.

”Was ist natürlich?” fragte Walti. ”Wie läuft der Mensch nach vorne? Über den Ballen oder über die Ferse?”
”Über die Ferse.” Antwortete ich. ”Aber beim Tanzen ist es anders.”
”Wieso?”
”Einfach so.”
”Eben nicht. Es ist nicht anders. Wenn man den Fuss streckt, um über den Ballen zu laufen, spannt man das freie Bein an. Völlig unnötig. Der Schritt wird weniger schön.”

Danach schauten wir uns youtube-Videos an. Wir fanden beide Beweise. Ich für meine Theorie, Walti für seine. Es schien keine wirkliche Lösung zu geben, na ja, es schien nicht nur. Es gibt keine. Der Mann kann im Tango über Ferse oder Ballen vorwärtslaufen. Trotzdem machte ich eine 180Grad Wendung. Ich würde nie wieder Ballenschritte unterrichten.
Walti hatte Recht. Nicht immer, versteht sich... Mit den Fersenschritten aber schon. Auch nicht ganz. Aber es ist so: ein ausgebildeter Tänzer kann wunderschön über den Ballen nach vorne laufen, wie eine Katze. Jemand, der gerade lernt, Tango zu tanzen, und noch nie in seinem Leben getanzt hat, kann das nicht. Um ehrlich zu sein: Ich habe es in keinem einzigen Fall geschafft, einem erwachsenen Mann schöne, überzeugende Ballenschritte beizubringen. Aber: schöne Fersenschritte sind in keiner einzigen Hinsicht weniger schön. Im Gegenteil. Sie wirken echter und ... na ja, männlicher. Carlitos Espinoza, der Tänzer, den ich zur Zeit am meisten bewundere (ok, nicht zuletzt darum, weil man Javier Rodriguez und Geraldine nicht mehr in Echtzeit bewundern kann...) – Carlitos läuft immer über die Ferse. Nicht, weil er es nicht anders könnte. Sondern, weil es verdammt gut aussieht. Schöne, lange, entspannte, natürliche Schritte. In perfekter Verbindung mit der Partnerin. Gibt es etwas Besseres? Ich glaube nicht.

Wenn ich meinen Schülern das Laufen beibringe sage ich heute: lauft. So wie immer. Ich lasse sie, mit der Frau am Arm, nach vorne laufen, so, als gingen sie an einem schönen Sommernachmittag zum See. Entspannt, aber zügig. Das tolle ist: DAS können sie schon. In perfekter Verbindung mit der Frau. Sie können anhalten, sie können wieder loslaufen. Wenn sie das machen, was sie immer gemacht haben und nicht versuchen, den Oberkörper nach vorne oder nach hinten zu neigen, das Bein so oder so zu schwingen, den Solarplexus zu verschieben. Die Herausforderung liegt darin, immer noch das Gleiche zu tun, auch wenn die Frau davorsteht, einen umarmt, und nach hinten laufen muss. Denn DAS ist nicht natürlich: jemanden vor sich zu haben und in diese Person reinzulaufen. Die meisten Männer entwickeln vielfältige Strategien, um NICHT in die Frau reinzulaufen: breitspurig gehen. Winzig kleine Schritte. Hintern raus strecken. Es gibt Männer, die tanzen seit zwanzig Jahren, schieben mühevoll ihre Sacadas, knorzen die Giros, lernen immer neue Figuren dazu. Aber es wird nie gut, denn sie haben es nicht geschafft, die erste grosse Hemmung zu überwinden: nach vorne laufen. In die Frau hinein. Den Platz der Frau mit jedem Schritt einnehmen. Denn: sie läuft zurück. Wenn man ihr ausweicht, kann sie keine schönen Rückwärtsschritte machen. Der Trick ist: nicht in den Standfuss reinlaufen. Das tut weh. Aber der freie Fuss, der geht weg. Um schön beieinander zu bleiben, muss man ihn suchen. Nicht meiden.

Dienstag, 13. März 2012

Laufen lernen. Teil 1.

Es gibt wenig allgemeine Wahrheiten im Tango, alles, was man so machen kann, kann man auch anders machen, jeder hat einen eigenen Stil und wenn man ein Konzept hat, so hat man es sich meistens selbst zusammengebaut. Aber in einem sind wir uns alle so gut wie einig: Tango ist Laufen. Mit der Frau und mit der Musik. Und so, dass man die anderen Paare auf der Tanzfläche nicht behindert oder gefährdet...

Aber, WIE läuft man? DA gehen die Wahrheiten auseinander. Hier ein Vorschlag, von dem kaum einer sagen würde, dass er falsch sei. (Und wenn doch – bitte, kommentiert. Kritik und andere Meinungen sind AUSDRÜCKLICH erwünscht.) Achtung: anstrengende Lektüre. Der nächste Absatz kann auch übersprungen werden.

1.    1. ganzes Gewicht auf ein Bein (Standbein), so, dass das freie Bein frei wird. Knie sind nicht durchgestreckt, sondern locker
2.    2. Projektion: freies Bein schwingt nach vorne (räumlich sehr kleine Bewegung), Solarplexus macht eine kleine Rotation nach oben und seitlich, so, dass der Oberkörper in eine leichte Kontraposition zu den Hüften gerät.
3.    3. Verlängerung: Durch Verschieben des Körpergewichts nach vorne und Strecken des Standbeines (Abstossen mit Hilfe von Knie und Fuss) wird der eigentliche Schritt gemacht, das Vorankommen im Raum.
4.    4. Ankommen: Aufrichtung der neuen Achse – Hüften, Schultern und Kopf kommen genau über dem Ballen des neuen Standfusses zu stehen. Das andere Bein fällt entspannt unter die Hüften, die Füsse sind wieder beieinander.

Nicht falsch ist eine Sache. Die andere ist: ich würde, wenn ich die Möglichkeit hätte, mich so gern bei den Generationen von Schülern entschuldigen, denen ich es so beigebracht hatte. Nicht falsch ist nicht gut genug. Was war das Problem? Ich stand während meiner Tanzausbildung stundenlang vor dem Spiegel. Studierte die Bewegung. Wurde von meinem Lehrer gequält, so lange, bis es ok war. Dass ich es erst im Alter von siebzehn tat und nicht schon viel früher, war gefährlich spät. Aber ich hielt durch. Als ich – Jahre später – anfing, Tango zu tanzen, war ich schon Tänzerin. Ich konnte mich bewegen. Nach einem halben Jahr gab ich Unterricht, zusammen mit meinem ersten Tangolehrer. Ohne irgendeine Ahnung vom Unterrichten zu haben. Asche auf mein Haupt!

Später ging ich nach Bs As, in alle Kurse, die ich zeitlich irgendwie besuchen konnte, versuchte zu verstehen, was einen guten Lehrer ausmacht. Denn man erkennt den Lehrer an seinen Schülern. Es gibt schlechte Tänzer, die hervorragend unterrichten. Gute Täzer, die katastrophale Lehrer sind. (Und natürlich auch die anderen zwei Fälle, wobei der eine dem Paradies entspricht, der andere – deutlich häufigere – der Hölle. Ich denke, ihr versteht... )

Aber das eigentliche AHA kam viel später. Ein alter Tänzer, den ich nach Zürich eingeladen hatte, bat mich, an einem schönen Nachmittag, das Fenster zu öffnen. Auf die Strasse zu schauen:

“Siehst du!” sagte er – ”sie können laufen. Alle Mensche können laufen. Die einen vielleicht ein bisschen schöner als die anderen, aber die Unterschiede fallen kaum auf. Sobald sie auf der Tanzfläche stehen, können sie das nicht mehr. Denn sie versuchen zu tanzen.”

Wenn ein Tänzer in seiner Ausbildung über Projektion und Verlängerung nachdenkt, analysiert er die natürliche Bewegung und versucht sie zu optimieren. Das tut er jeden Tag, stundenlang.

Wenn ein Tanzschüler, der mit vierzig Jahren noch nie getanzt hatte, der einmal pro Woche in den Unterricht kommt, seine Schritte in irgend welche Elemente unterteilen muss, wenn er gewisse Punkte an seinem Körper irgendwie verschieben muss, so ahmt er die natürliche Bewegung bestenfalls nach. Es wird nicht klappen. Er wird sich wie ein motorisch Behinderter durch den Raum schleppen. Aber: DIE NATÜRLICHE BEWEGUNG, DAS LAUFEN, BEHERRSCHT ER SCHON EIN GANZES LEBEN LANG! DENN ER HAT LAUFEN GELERNT, ALS ER EIN JAHR ALT WAR. Er läuft vielleicht weniger schön als sein Tanzlehrer. Aber das ist egal. Er kann laufen. Nachahmen ist wertlos. Niemand wird sich schöner bewegen im Versuch, sich wie ein anderer zu bewegen.

Wenn man es schafft, die Schönheit der natürlichen Bewegung ins Tanzen rüber zu retten hat man, meiner Meinung nach, sehr viel gewonnen. Fast alle Gelegenheitstänzer laufen schöner, als sie tanzen. Entspannt, in Achse, ohne Kraft auf das freie Bein anzuwenden, ohne die Beine so auseinanderzuführen, als hätte man in die Hose gemacht. Ohne in den Boden zu kleben, so, als liefe man im Sumpf. Ohne Rücklage und ohne das Hintern nach aussen zu strecken. Ohne die Schultern hochzuziehen und den Kopf nach vorne zu drücken.

Die gute Nachricht – es klappt. Mann kann das natürliche Laufen retten. Wir können alle laufen, darum können wir alle tanzen – schön tanzen – wenn der Fokus von Anfang an richtig ist und das Coaching geeignet. Ich werde in den kommenden Posts meine Erfahrungen schildern.

Montag, 12. März 2012

Spielregeln... Teil 3

Wir wissen alle, dass es eine Tanzrichtung gibt, wir wissen meistens auch ziemlich genau, welche. Trotzdem geschah es, dass ein Schüler eines Abends zu mir kam und irritiert sagte:

“Es stimmt nicht, was du uns immer sagst!”
“Wie bitte?” fragte ich.
“Das mit der Tanzrichtung. Dass alle in die gleiche Richtung tanzen. Das stimmt ja nicht.”

Ich erhob den Blick von der Musikanlage zur Tanzfläche und das, was ich sah, müsste man sich so vorstellen: Wie wenn zwei verschiedene Kräfte das Wasser in einem Becken in Wellenbewegungen versetzen, die gegeneinander gehen, so, dass sie am Beckenrand zurückgeworfen werden und sich beim zurückrollen wieder überschneiden, so tanzten die Paare buchstäblich ineinander und auseinander, in einer nicht nachvollziehbaren Dynamik, ohne dass eine allgemeine Tendenz oder Hauptrichtung auszumachen gewesen wäre. Mein Schüler hatte Recht. Ich blieb für einige Augenblicke sprachlos.

“Weisst du” – sagte ich, als ich die Stimme wiederfand – “es ist nicht immer so. Es sollte nicht so sein. Warte ab, der Abend beruhigt sich bestimmt.”

Ich suchte für die nächste Tanda die langsamsten, ruhigsten di Sarli-Stücke in meiner iTunes-Bibliothek aus, übersprang die anstehenden Milongas und verzichtete den ganzen restlichen Abend auf d’Arienzo und Biagi. Es wurde besser. Nach der Show gingen viele nach Hause, und die, die noch da waren, tanzten ruhig und geniesserisch, ohne viele Zusammenstösse.

Es war nicht das erste Mal, man hatte mich schon früher der falschen Auskunft bezichtigt.

“Es stimmt nicht, dass man auf einer Bahn, und zwar möglichst auf der äusseren, tanzen sollte. Alle tanzen so, wie es gerade Platz gibt. Vom Rand zum Zentrum und wieder zurück.”

Auch damals war ich sprachlos geblieben, denn jenes Pärchen – zwei begabte Schüler, die mir sehr lieb waren, hatten monatelang im Unterricht geübt, schön um die Tanzfläche herum zu tanzen. Sie kriegten es inzwischen gut hin – umsonst, wie es ihnen erscheinen musste, denn sie hatten Recht. Kaum einer – und es war eine der schönen, zivilisierten Milongas von Zürich – kaum einer tanzte so. Es gab zwar eine Tanzrichtung. Aber keine Bahnen.

Es nützt wenig, zu sagen: In Buenos Aires ist es aber so. Wir sind nicht in Buenos Aires. Sie werden wahrscheinlich kaum, und wenn, dann höchstens alle paar Jahre für zwei Wochen nach Buenos Aires fliegen. Sie müssen hier tanzen können. Und hier heisst es – da, wo es gerade Platz gibt und wenn möglich nicht hinter einem jener Tänzer, die öfter an mehr oder minder blutigen Unfällen beteiligt sind.

Aber eine allgemeine Wahrheit lasse ich mir nicht nehmen:

“Bitte, bitte! Fangt nicht mit einem Rückschritt an! Nie. Ihr könnt kaum wissen, wer hinter euch steht. Seite. Oder vorwärts. Oder – etwas besonderes – rechts an der Frau vorbei. Aber bitte kein Rückschritt.”

Man glaubt es mir. Bis auf einen Schüler, der gerade aus Buenos Aires zurückkam.

“Die Lehrer, bei denen ich Privatstunden nahm, fangen immer mit dem Rückschritt an, wenn sie etwas zeigen. Was soll daran falsch sein? Wenn sie es dürfen, darf ich es auch.”

Freitag, 9. März 2012

Spielregeln... Teil 2 – die Cortina

Die Freiluftmilonga im chinesischen Viertel von Buenos Aires hat einen speziellen DJ.

“Wenn er verliebt ist, macht er gute Musik” – hatte man mir gesagt. “Wenn er sich gerade getrennt hat, kann es schrecklich werden...”

Manche meiner Freunde gehen hin und warten ein paar Tandas ab um herauszuspüren, ob der DJ gerade gut gelaunt ist, oder nicht. Es ist witzig – denn es scheint wirklich so zu sein – und gut gelaunte Abende in der Glorieta sind herrlich. Nun, ob gut gelaunt oder nicht, es kommt immer der Moment, da ärgert er sich DJ beträchtlich und ruft durchs Mikrofon:

“Tanzfläche verlassen! Bitte, verlasst alle die Tanzfläche! Wir machen erst weiter, wenn alle die Tanzfläche verlassen haben.”

Das kann er tun. In Europa geht das nicht – er würde die Gäste verärgern. Aber es gibt DJs die andere, wirkungsvolle Methoden erfunden haben, damit die Tänzer in der Pause von der Tanzfläche weggehen.

“Ich suche eine Cortina aus die nicht  - also wirklich nicht – tanzbar ist und lasse sie so lange klingen” – erzählte mir ein Argentinier, der in Genf wohnt – “bis alle von der Tanzfläche weg sind. Ich warte seelenruhig. So lange, wie es braucht. Tanzmusik gibt es erst wieder, wenn alles frei ist. Das funktioniert! Na ja, überall auf der Welt, nur nicht in Zürich.”

Ich schaute ihn erstaunt an: “Wieso denn nicht?”

“Tja” fuhr er fort und schmunzelte. “Manche fangen an, die Cortina zu tanzen. Auch wenn es die Jahreszeiten von Vivaldi sind.”

Wieso ist es so wichtig, dass die Tänzer das Parkett verlassen, sobald die Cortina – die Pausenmusik – ertönt? Sogar dann, wenn sie unbedingt mit dem gleichen Partner weiter tanzen wollen? Ganz einfach: Wenn die Tanzfläche voll ist, haben jene, die sitzen, keine Chance auf Blickkontakt mit denen, die woanders sitzen. Oder stehen. Ohne leere Tanzfläche funktioniert der Cabeceo nicht. Das ist ärgerlich. Man kann es verhindern, indem man kurz weggeht. Auch wenn man mit dem gleichen weitertanzen will. Aber... wieso weiter tanzen?

Es kommt in vielen mitteleuropäischen Städten vor, dass man viele, viele Tandas nacheinander mit dem gleichen Partner tanzt. Ich verstehe nicht wieso. Weil es besonders schön war? Dann ist es doch angenehmer, wenn es etwas Besonderes bleibt. Wenn man das Vergnügen mit der Tanda beendet, so, dass man sich auf später oder auf ein anders Mal freut. Weil man üben will? Dann trifft man sich doch in einer Practica oder zum gemeinsamen Training.

Mir wurde es zum Anfang meiner Tango Zeit klar und deutlich eingebläut: Wenn du mehr als eine Tanda tanzt, heisst es, du willst etwas von dem Typen. Es brauchte eine oder zwei Eifersuchtsszenen beiderseits, danach war das korrekte Verhalten im Blut. Heute geht es nicht mehr um korrekt oder nicht, es ist einfach so, es macht Spass so. Nach einer beendeten Tanda eine weitere zu tanzen wäre es, wie wenn man mit jemandem einen Kaffe trinken gehen würde, mit dem man gerade einen Kaffe getrunken hat. Sinnlos.

Ein Freund – jener, der nur mit Cabeceo auffordert, auch wenn die Frauen nicht gewohnt sich, zu schauen, hat mir frustriert erzählt:

“Ich komme meist erst spät in die Milonga. Dann kann ich nicht tanzen, weil alle schon einen Partner haben und stundenlang weitermachen. Wenn ich es endlich schaffe, eine Frau einzuladen, ist sie beleidigt, weil ich nur vier Tangos tanze und mich dann bedanke. Dabei tue ich es aus Respekt. Für sie. Und sie versteht das nicht.”

Donnerstag, 8. März 2012

Spielregeln... (Fortsetzung von: Kampfsportart oder Umarmung)

Teil 1. - der Cabeceo

Als der Tango nach Europa kam sind einige Sachen aus dem Flugzeug in den Atlantik gefallen, und das ist schade. Der ocho cortado ist so eine dieser Sachen, dazu gibt es noch viel zu sagen, aber nicht jetzt. Deutlich schmerzhafter ist der Verlust der Regeln. Man weiss oft nicht, wie man sich in der Milonga zu benehmen hat. Und wenn man es weiss, hat man vielleicht Nachteile.

So wie ein guter Freund von mir, der sich weigert, zum Tisch zu gehen, und die Frauen wörtlich einzuladen. Er schaut sie aus einer gewissen Entfernung an, und wenn sie nicht zurückschauen, wenn sie nicht mit einem Nicken annehmen, dann tanzt er nicht. Er tanzt ganze Abende nicht. Viele halten ihn für arrogant. Ist er nicht.

Wieso ist es wichtig, dass das Auffordern über Blickkontakt – der Cabeceo – funktioniert? Weil Regeln nicht da sind, um das Leben schwieriger zu machen, sondern leichter. Das Auffordern auf Distanz hat für beide – Männer und Frauen – Vorteile. Wenn es nicht funktioniert, wird vieles viel, viel schwieriger.

Für die Männer: hingehen, über der ganzen Tanzfläche, zu einer Tänzerin, sie mit Wort und Geste auffordern, kann sehr peinlich sein, wenn sie nein sagt. Wenn alle zugesehen haben, dass man abgewiesen wurde, und als Abgewiesener weiterziehen muss. Manche Frauen ersparen die Peinlichkeit, tanzen gegen den eigenen Willen und ärgern sich. Andere sind nett und geben einen Vorwand. Ich bin müde. Meine Füsse tun weh. Nicht jetzt, später. Damit sagen sie aber: Nein, ich will nicht mit dir tanzen. Aber ich bin nett und sage irgend etwas, damit du nicht dumm da stehst. Das verstehen manche Männer wiederum nicht, und ärgern sich, falls die Dame kurze Zeit später mit einem anderen tanzt. Anstatt dankbar zu sein, dass sie freundlich war. So freundlich wie es ging. Mit jemandem tanzen, mit dem es nicht schön ist, ist für viele eine Qual.

In einem Land, in welchem das Auffordern mit dem Blick funktioniert, weiss der Mann: sie schaut mich nicht an, gut, sie will nicht mit mir tanzen. Er kann sich dazu ergänzen: sie ist eine arrogante Zicke, sie weiss nicht, was ihr entgeht, sie traut sich nicht, weil ich zu sexy bin. Alles recht. Aber: sie will nicht. So einfach. Alles Peinliche bleibt erspart.

In einem Land, in welchem der Cabeceo nicht funktioniert, weiss der Mann nicht: schaut sie nicht zurück, weil sie nicht weiss, wie das gemacht wird, oder will sie nicht mit mir tanzen? Männer, die sich weigern, es falsch zu machen, können ganze Abende stehen. Frauen, die es nicht kapieren, kommen um viele wunderbare Tänze. Schade für beide.

Aus der Sicht der Frau: Wenn ich in eine Milonga gehe, die ich nicht kenne, werde ich ganz sicher mehrere Tandas sitzen und schauen. Ich versuche herauszufinden, wer schön tanzt (und wer nicht) und versuche mir die Leute ein bisschen zu merken. Danach kann ich genau den Mann anschauen, mit dem ich gern tanzen würde. Ich bin nicht ausgeliefert und muss nicht warten, dass mich jemand “holt“. Wenn in dieser Zeit einer zum Tisch kommt und mich auffordert, bekommt er ein klares nein. So erspare ich sowohl mir als auch einem potentiellen Mr. Gancho unangenehme Momente.

In einem Land, in dem der Cabeceo nicht funktioniert... Na ja, in diese Richtung funktioniert er meistens. Wahrscheinlich, weil Männer nicht so gewohnt sind, dass sie eine Frau fix anschaut, und wenn eine es tut, kommen sie drauf, dass sie was will...

Es ist aber schade, wenn man sich 360 Grad drehen muss, um jemandem auszuweichen, der entschlossenen Schrittes auf einen zukommt, und der es dann schafft, trotz herzhafter Wegschau-Bemühungen vors Gesicht zu erscheinen und zu fragen: “Magst du tanzen?“ Oder – ist wirklich geschehen – “Schaust du weg, weil du nicht mit mir tanzen willst, oder schaust du zufällig weg?“

Mittwoch, 7. März 2012

Apologie des Mr. Gancho


Der ältere Herr aus meinem letzten Beitrag bekam mit der Zeit einen sich selbst erklärenden Übernamen: Mr. Gancho. Er wurde zu einem netten, gern gesehenen Gast in jener Milonga, wurde immer herzlich begrüsst, doch hörte die Herzlichkeit meistens auf, sobald er eine jener Frauen einlud, mit denen er am liebsten getanzt hätte. Anfangs bekam er ausweichende Antworten wie “nicht jetzt, ich bin zu müde“ oder “meine Füsse tun weh“, später musste er sich oft mit einem schlichten “nein“ abfinden. Ich glaube, er hat nie verstanden, wieso.

Es ist auch nicht leicht, zu verstehen. Seine Tanzpartnerin hat wilde Figuren geliebt und hat ihn wohl angestachelt, noch mehr Ganchos und Sacadas zu lernen. Er hielt sich, das konnte man den Gesprächen mit ihm entnehmen, für einen erfahrenen Tänzer. Und das sicher zu recht. Nur – die Erfahrung, die ihm viel Lob von manchen Frauen gebracht hat, brachte andere Frauen dazu, sich hinter der Bar zu verstecken,  sobald er sich näherte. Das ist irgendwie grausam. Und: wie hätte er verstehen sollen, wieso? Keine hat es ihm je gesagt.

Am Schluss des letzten Blog-Eintrags habe ich die Bewegungsqualität eines Schülers gelobt, der zwar nur laufen konnte, aber schön. Ich frage mich jetzt – was, wenn manche Tänzer und Tänzerinnen gar nicht daran interessiert sind, lange, weiche, schwebende Schritte zu machen, sondern bloss ein wenig Spass haben wollen? Was, wenn “ein wenig Spass“ für sie bedeutet, dass man viele Figuren im Unterricht lernt und sie dann irgendwie ausführt? So eine Art mnemotechnisches Spielchen? Was ist so schlimm daran, wenn man andere nicht stört, und man muss hier festhalten, dass Mr. Gancho ein durchaus rücksichtsvoller Tänzer war, der nie gegen die Tanzrichtung ging und keinem je den Weg abgeschnitten hat.

Wenn man ans Fest einer Tanzschule hingeht, wo etwas anderes als Tango getanzt wird, wird einem klar, dass die meisten Paare stolz und selbstverständlich “Schrittchen“ machen. Das Fliegen übers Parkett ist nur für die Profis, und davon gibt es wenige. Die meisten zählen bemüht den Takt, legen im hoffentlich richtigen Moment los, machen die Figur, die sie gelernt hatten, und haben Spass. Das reicht. Vielleicht ist es so, dass es manchen Leuten, die Tango tanzen, genau so reicht. Sie sollten dafür nicht bestraft werden.

Nun... Mr. Gancho fühlte sich zwar ungerecht behandelt, das war aber nicht so. Die Mädchen, die sich vor ihm versteckten, taten es, weil es für sie unangenehm war, mit ihm zu tanzen. So wie er sich entscheiden kann, unvollkommene Sacadas als Gedächtnisspielchen aneinanderzureihen, so kann sich ein anderer dafür entscheiden, die Freude in der schönen Bewegung zu suchen. In der perfekten Verbindung mit dem Partner und der Musik. Dieses süchtig machende Gefühl, jeden Schritt zusammen anzufangen, zusammen zu gleiten und zusammen anzukommen. Wenn es das ist, was einem Freude macht, dann ist das andere qualvoll. So ist das. Und das müsste Mr. Gancho irgendwie verstehen.