Mittwoch, 27. April 2011

Umarmung gegen Kampfsport und die halbleeren “milongas flojas“
Teil 2



Anders als im Circuito ist in den halbleeren Milongas der Touristenquartiere alles möglich: Tänzerisch – quer über die Tanzfläche schiessen, die Frau am Tisch auffordern, andere Tanzpaare überholen. Musikalisch: Mariano Mores mit Juan d'Arienzo in der gleichen Tanda. Ausserdem: Offene Umarmung, platzintensive Figuren. Es tanzt jeder mit jedem (na ja, fast...) auch weit mehr als eine Tanda, während der Cortina - falls eine eingeplant ist - wird die Tanzfläche nicht geleert. Da kommt unsereiner nach hause und erzählt. "In Buenos Aires ist es gar nicht so anders..." Realisiert nicht, dass die "Tänzer" dort im Circuito tanzen. Und dass sie nicht ausländerfeindlich sind. Jeder kommt zum Tanzen. Vorausgesetzt, er kann es. Und "Können" heisst: er respektiert die anderen und die Frau fühlt sich wohl in seinen Armen.

Wieso ist es wichtig, sich wohlzufühlen? Weil man für sich tanzt. Und für die Frau. Der Ehrgeiz (und Argentinier haben meist viel davon) ist dann befriedigt, wenn die Frau nach dem Tanzen lächelt. Sollte man für die ANDEREN tanzen wollen, wird man für sich die Bühne in Anspruch nehmen. Wenn schon für die anderen, sollen sie wirklich zuschauen. Man sollte dann so gut sein, dass sie auch zuschauen WOLLEN. Aber eine Gratisshow in der Milonga abziehen, mit hundert anderen Paaren auf der gleichen Tanzfläche? Macht wenig Sinn, oder?

Dann gibt es noch eine Kleinigkeit: die ganzen Regeln in einer traditionellen Milonga. Der Italiener, der in Sunderland zum Tisch geht und die Tänzerin seiner Wahl mit einer eleganten, tanzsimulierenden Bewegung einlädt, wird kaltblutig abgewiesen. Obwohl er wunderbar tanzt. Eine tolle Umarmung hat. Natürlich wird er sich ärgern. Sollte er auch. Aber nicht auf die Frau, die ihn abgewiesen hat, sondern darüber, dass die Leute, die ihm das wunderbare Tanzen beigebracht haben, ihm nicht erklärt haben, wieso die Regeln in der Milonga Sinn machen. Und welche es sind. Keiner spielt z.B. Schach, ohne die Regeln zu kennen. Denn Spielregeln sind nicht da, um die persönliche Freiheit einzuschränken, sondern um das Spiel - und somit die Kommunikation in diesem geschützten Rahmen, indem keiner den anderen  verletzt - überhaupt zu ermöglichen.


Fortsetzung folgt

Montag, 25. April 2011

Umarmung gegen Kampfsport und die halbleeren “milongas flojas“
Teil 1



Als ich in Februar, nach einem Jahr Pause, endlich wieder in Buenos Aires war, dachte ich am ersten Abend: “So schade, lebe ich nicht hier.“ Am dritten morgen dachte ich anders. Ich dachte: “So ein Glück, dass ich nicht hier lebe. In zwei Jahren wäre ich kaputt, gealtert, en la ruina.“ Der Grund dafür ist der Circuito – die Endlosreihe von prestigereichen Milongas, die am Nachmittag um 20:00 anfängt und am nächsten Morgen um sechs mit Kaffe und medialunas in der Viruta endet. Die ganze Nacht, also. Jede Nacht.

Der Circuito war die strengste Tanzschule meines Lebens. Es war Frühjahr 2006, ich war zum ersten Mal, vorerst allein, in Buenos Aires und dachte, ich könne tanzen. Dass es nicht so war, merkte ich während der allerersten Tanda in Sunderland. So eindrücklich, dass ich den ganzen weiteren Abend die Pommes Frites im Teller anstarrte,  in vergeblichem Kommunikationsversuch mit den anwesenden Tänzern “Holt mich nicht. Bitte nicht. Heute nicht. “

Aber das war es. Ein Unglück am ersten Abend, ein grosser Glücksfall alle Abende darauf: Ich wurde aufgefordert. Pausenlos. Wahrscheinlich weil ich hilflos aussah und an den Beschützerinstinkt appellierte. Hatte somit die Chance, zu lernen.  Eines der Momente in meinem Leben, in denen ich sehr dankbar war, weiblich, nicht männlich zu sein.

Erst viele Jahre später, als Lehrerin, ist mir das grosse Dilemma aufgefallen: Neun von zehn europäischen Tänzern werden keine Chance haben, im Circuito zu tanzen. Denn die “vielen Tangos“, die es in Europa gibt, gibt es in Buenos Aires nicht. Es gibt nur einen Tango: Mann, Frau, Umarmung, Musik. Es gibt zwei Gesetze:  “Immer mit der Musik“, und “keiner soll deine Frau berühren“. Was sagen will, dass man die Frau beschützen muss. Sie ist ausgeliefert. Sie sieht nicht, wohin sie läuft. Es kann nicht sein, dass man sie in einen anderen Tänzer hineinmanövriert. Oder in einen Tisch.

An einem Freitag Abend, in Canning, hat man etwa einen halben Quadratmeter Platz für sich. Mit diesem halben Quadratmeter muss man sich langsam, in Tanzrichtung, voranbewegen. Und IN diesem halben, beweglichen Quadratmeter, muss man tanzen. Wie? Gar nicht so schwer: Linksdrehung, Rechtsdrehung, Cortes, Linksdrehung, Rechtsdrehung, noch mehr Rechtsdrehung, Linksdrehung, Cortes... Nur... das können Europäer nicht. Nicht, weil sie doof wären. Aber sie haben oftmals gelernt, geradeaus zu rennen, als würde derjenige gewinnen, der in ein und der gleichen Tanda die meisten Leute überholt hat und den Saal mindestens drei Mal umrundet.

Ich war tief erschrocken, als ich realsiert hatte, dass die Leute, die ich in bestem Wissen und Gewissen, in bestehender Lehrtradition unterrichtet hatte, nicht fähig wären, in Canning zu tanzen. Oder im Cachirulo. Oder im Beso am Sonntag.

Klar ist es einfacher, eine Sacada in offener Umarmung zu unterrichten, als sauber geführte Ochos. Nur – was machen die Leute mit ihrer gegen viel Unterrichtsgeld und mit viel Geduld und Mühe gelernten, offenen Sacada? Folgendes: nachdem sie in Canning  oder Humberto Primo von der Tanzfläche wegschikaniert werden, sich darüber ärgern, dass Argentinier ausländerfeindlich sind, landen sie in den “milongas flojas“ – in den halbleeren Milongas der Touristenquartiere.


Fortsetzung folgt


Aus der Reihe: Das politisch inkorrekte Leben von dekadenten Paradiesvögeln



Die Geschichte von Julia und Vicente
eine Geschichte von Joelle K.


Sie sahen sich zum ersten Mal in Buenos Aires, in der Confiteria Ideal, darin stimmen die beiden Fassungen überein.
“Sie wechselte gerade ihre Schuhe“ erzählt Vic “sie hatte etwas Spezielles. Sie fiel mir sofort auf.“
“Ein Freund aus der Schweiz – er war unser Fremdenführer“ erzählt Julia “ein Freund stellte ihn mir vor. Willst du – sagte er – den Argentinier kennenlernen, in den sich die Frauen verlieben? Und ich dachte – als ich ihn sah – o nein! Kann nicht sein. Dick und klein, eingebildet, schrecklich. Dann tanzten wir miteinander. Da war es um mich sowieso geschehen.“
Das konnte ich nachfühlen. Zu dem Zeitpunkt, da Julia es erzählte, konnte ich dieses “sowieso“ genau verstehen. Ich war ich durchaus der Meinung, dass es um eine Frau geschehen sein musste, sobald Vicente mit ihr tanzte.
Sie sahen sich noch ein oder zwei Male zufällig in den Milongas, danach fingen sie an, sich zu verabreden. Für den Abend. Das heisst, sie gingen nie zusammen hin, sondern getrennt. Weil Vicente überall Habitué war und Julia hübsch, bekamen sie immer sehr gute Tische. Im besten Fall in der ersten Reihe, aber so, dass sie sich gegenüber sassen, mit der Tanzfläche dazwischen. Sie mussten nur noch zueinander schauen, nicken, aufstehen. Dann wartete Julia, bis er bei ihr war, denn eine Frau, die etwas auf sich hält, läuft auf der Tanzfläche nicht zum Mann hinüber.
“Ich wollte nur noch mit ihm tanzen“ erzählte Julia später. “Und er mit mir. Alle anderen, die mich aufforderten, wurden zu Luft. Ich sah sie nicht mehr.“
Vicente lud sie zu einem Kaffe ein. Aber das war das no-go, auf das man sie noch in der Schweiz vorbereitet hatte:
“Wenn einer dich zu einem Kaffe einlädt, ist es so, dass er in Wirklichkeit mit dir ins Bett will. Wenn du annimmst heisst es, dass du auch willst.“
Nicht mal da, wo es ganz klar war, dass beide wollten, nahm Julia an. Denn sie hatte sich zwar verliebt – sehr, sogar - aber sie war treu. Und sie war eben verheiratet. Am letzten Abend trafen sie sich schon um fünf in der Confiteria Ideal und zogen danach weiter, von Milonga zu Milonga, die ganze Nacht durch, um keinen Kaffe trinken zu müssen. Nachdem um fünf auch die Viruta zuging, brachte Vicente Julia in ihr Hotel. Vor dem Eingang küsste er sie. Da dachte Julia darüber nach, dass sie in ihrem Leben noch nie etwas Verrücktes getan hatte. Und entschloss sich, es zu ändern.
“OK“ sagte sie zu ihm “du darfst mit, aber ich werde nicht mit dir schlafen. Du kannst bei mir bleiben, aber mehr ist es nicht.“
“Es hatte doch keinen Sinn “– erzählte sie später “in wenigen Stunden musste ich beim Flughafen sein. Wozu hätte ich es mit ihm weiter kommen lassen sollen? Was hätte es gebracht?“
Sie schliefen nicht miteinander. “Weil sie eben frigide ist“ erzählte mir Vicente. Oder “weil sie eine anständige Frau ist, nicht eine Schlampe wie du.“ Je nach Stimmung.
Am nächsten morgen war sie weg. Auf dem Weg zum Atelier – Vicente hatte vieles verloren, seitdem er alle Nächte durchtanzte, aber damals arbeitete er noch: Nach elf und morgens und nie später als zwei Uhr nachmittags, denn da kann man schon tanzen gehen- Auf dem Weg zum Atelier schaute er zum schmalen Himmelsstreifen über der Altstadtgasse hoch – gerade in jenem Moment flog eine Swissairmaschine darüber. Da überkam ihn tiefe Traurigkeit. Er verlor die Lust zu arbeiten. Viele Monate danach ging er kaum aus dem Haus. In den Milongas sah man ihn nie.
Julia, ihrerseits, versuchte, alles zu vergessen. Konnte sie nicht. Beim Auspacken der Geschenke und vor allem, wenn sie die CD hörte, die sie von Vicente bekommen hatte, brach sie wieder und wieder in Tränen aus.
“was ist los?“ –fragten die anderen.
“nichts“ sagte sie “Erinnerungen.“
Aber es war verdächtig, dass Erinnerungen so intensiv sein sollten. Dann, eines Tages – sie war gerade mit ihrem Mann im Kino gewesen – sagte sie es ihm. Nicht direkt. Und nicht sofort. Und ausserdem war nicht so viel zu sagen. Dass sie sich in ihn verliebt hatte, war eine Sache. Aber geschehen war fast nichts. Sie hatten nicht miteinander geschlafen. Der Ehemann trug es mit Fassung. Man lebe nicht mehr im Mittelalter, sagte er, es käme keine Inquisition, die einen verbrennt, wenn man nicht nach den Prinzipien der Kirche handelt. Er zog demonstrativ, aber guten Mutes, seinen Ehering ab. Man braucht keine Requisiten. Nicht heutzutage. Und eine moderne Ehe ist etwas ganz anderes. Sie braucht vor allem eines: Freiheit. Julia war erleichtert.
In der Nacht wachte ihr Mann auf, ging ins Bad und erbrach. In den nächsten Tagen konnte er nichts essen, nichts trinken, alles, was er schluckte, würgte er wieder hoch. Julia fühlte sich schuld an seiner Misere, aber es gab nichts, das sie tun konnte. Sie konnte sich nicht mehr entlieben.
Sie hatte ihre Freundin aus Bs As, eine Australierin, die schon lange dort lebte und tanzte, damit beauftragt, Vicente zu finden. Nach seiner email-Adresse zu fragen. Die Australierin ging zu jeder Milonga, die man erdenken konnte. Nirgends eine Spur. Sie fragte nach ihm. Keiner wusste was. Hätten sie etwas gewusst, hätten sie auch nichts gesagt, denn das wäre Verrat. Doch das wusste sie nicht. Sie war eben Australierin. Eines Tages, unversehens, lief er ihr über den Weg:
“Hallo, “ – “sagte sie, dich suche ich schon lange! Wo hast du nur gesteckt?“
“Nirgends“ – antwortete er. Keine Lust, auszugehen. Wieso. Ist was passiert ?“
”Nein, nur, dass dich Julia gesucht hat.“
”Julia’” Vicente tat so als verstünde er nichts. ”Ach ja, und wozu?
”Keine Ahnung, vielleicht hat sie Arbeit für dich, in Europa.”
”na gut- sagte er. Dann gib mir ihre Adresse. Wir schauen weiter.”
Sobald er wieder zuhause war setzte er ein yahoo-Konto auf, er hatte damals noch keines. Und schrieb ihr. Halb englisch, halb Spanisch. Sie antwortete und fing an, Spanisch zu lernen. Ab da schrieben sie sich die ganze Zeit. Vicente hatte Gefallen daran und eine besondere Eignung dafür entwickelt. Bald schrieb er nicht nur an Julia, sondern übernahm auch die Korrespondenz anderer Milongueros mit ihren europäischen Geliebten. Wie das gehen konnte, weiss ich nicht, denn die Briefe, die er später mir schrieb, waren schlecht aufgebaut, platt und von ergreifender Einfältigkeit. Aber manchmal entsteht ein Zauber, den man sich nicht erklären kann.
Da gab es Jorge, der auch alle Nächte durchtanzte und nicht arbeitete, weil es sich für einen Milonguero nicht gehört, profanen Tätigkeiten nachzugehen. Jorge hatte eine Holländerin kennengelernt, und als sie weg war, bat er Vic, ihm mit dem Schreiben zu helfen. Vicente nahm an. Später, als sie verliebt zurückkam, lud Jorge, überglücklich, den Freund zum Essen ein. Am Schluss des Abends nahm die Frau Vicente bei Seite:
“gib es zu“ – sagte sie zu ihm – “du hast die Briefe geschrieben, nicht er. Ich bin mir darin ganz sicher.“
Das erzählte er fortan gerne, und Julia erzählte es auch, und ihre Geschichte geht eine Weile gemeinsam weiter. Erst später zweigt sie sich ab in zwei Fassungen.
Julia hatte zugegeben, dass sie sich verliebt hatte. Und, dass sie mit Vicente Korrespondenz führte. Um ihre Ehe zu retten, entschlossen sie sich – Julia und ihr Mann – auf Weltreise zu gehen. Sie kamen nicht weiter als Kuba, da leuchtete ihr ein, dass sie ohne Vicente nicht leben konnte. Sie wollte zu ihm fliegen. Komme was will. Ihr Mann schlug ihr vor, es für zwei Wochen zu versuchen.
“Ich warte auf dich so lange. Wenn du merkst, dass es sich nicht lohnt, komm zurück. Aber ich warte nicht länger als zwei Wochen. Wenn du bis dahin nicht zurückkommst, ist alles aus.“
Julia kam nicht zurück. Sie blieb bei Vicente. Ab da gibt es zwei Fassungen der Geschichte. Denn Vicente hatte nicht damit gerechnet, dass sie wirklich kommt. Und bleibt. Er hatte ihr geschrieben, ja, dass sein Leben ohne sie keinen Sinn mache. Er war über den Massen verliebt und über die Aussichtslosigkeit dieser Liebe verzweifelt. Aber dass sie alles hinschmeissen und nach Buenos Aires kommen würde? Das hatte er gefordert, ja, aber eher... generisch. Nicht wirklich-wirklich.
Sie war jetzt da. Abgemagert und krank. Sie 23, er 49. Hatte sich aber als 35 ausgegeben. Ihre langen, schwarzen, gelockten Haare waren das Üppigste an ihr. Ansonsten sah sie aus wie ein kleiner Junge. Hübsch und scheu, mit grossen blauen Augen. Sie wohnten zuerst in einem Hotel, denn Vicente wollte sie seinen Kindern noch nicht vorstellen. Seiner geschiedenen Ehefrau auch nicht. Dann nahmen sie sich eine Wohnung, zuerst eine schäbige, nachher eine schöne.
“Aber das muss eine schöne Zeit gewesen sein?“ - fragte ich später.
“Ja,“ – sagte er, “aber es war schon damals das Gleiche: sie wollte keinen Sex. Zuerst gar keinen, weil sie krank war. Nachher – eben, wie jetzt. Einmal im Monat. Nicht vor neun, weil da Tag ist. Nicht nach zehn, denn da schläft man. Nicht woanders als im Ehebett, denn für alles gibt es einen Platz und eine Zeit.“
“Und, wenn es so war, wieso hast du nicht früher reagiert? Und Schluss gemacht?“
”Zuerst dachte ich, dass sie sich ändert“ – sagte er. “Dass sie lernt. Und ausserdem hatte ich sie lieb, hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie für mich so vieles aufgegeben hatte. Und Frauen für Sex hatte ich immer genügend, das war nie ein Problem.“
Zwei Monate später flog Julia nach Zürich, um sich scheiden zu lassen und alles abzuschliessen. Vicente konnte nicht mit, es war zu teuer. Und er war überzeugt, sie würde nicht zurückkommen.
“Da rief ich an“ erzählte sie später, und – Überraschung – V. war in Miami. Ich habe mich mordsmässig aufgeregt. Kein Geld, um mit mir nach Zürich zu kommen, aber genug Geld für Miami. Aber er hat es kaum ausgehalten, als ich weg war, dachte sogar, ich würde zu meinem Mann zurück. Weil der reich ist und V. arm. Und in Miami hatte er alte Freunde, die führten eine kleine Pension.“
In der anderen Fassung lautete es so: “Eine reiche Amerikanerin – ich kannte sie schon lange – hatte mich nach Miami eingeladen. Flug, 5Sterne-Hotel, jeder Luxus, den man sich vorstellen kann. Nur, um sie zu begleiten. Ich konnte nicht gut weg – Julia war da. Eines Tages sagt sie mir aber, sie müsse nach Zürich fliegen. Um dort ihre Sachen zu regeln. Ich dachte, sie kommt nicht wieder, und ja, ich war schon traurig. Denn offensichtlich war ihr das Geld, das ihr Ehemann hatte, wichtiger. Aber das Gute daran war – ich konnte ganz entspannt und ohne Alibi nach Miami.“
Nicht, dass V. ungeübt darin gewesen wäre, Alibis zu basteln. Aber je weniger man erfinden muss, um die Wahrheit zu verhüllen, desto besser. Die Leute glauben sowieso das, was sie glauben wollen und nicht das, was wahrscheinlich ist.
“War die Amerikanerin hübsch?“ – fragte ich.
“Nein, ” – sagte er. “Aber auch nicht hässlich. Ich hätte sie heiraten können – dann hätte ich mich nie wieder um Geld kümmern müssen. Aber das mag ich nicht. Ich will frei sein”.
“Julia hast du doch schliesslich auch geheiratet.”
“Ja, aber nicht für Geld. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Sie hatte wirklich vieles für mich gemacht. Und hatte sich scheiden lassen. Sie war immer so – geradeaus. Nicht wie du. Keine halben Sachen. Und ausserdem...” – V. zeigte mir seine linke Hand. Fasste mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand den Ehering und begann zu drehen. Der Ring bestand aus zwei Teilen – der äussere Teil, aus hellerem Metall, liess sich drehen, während der innere Teil unbeweglich den Finger umfasste. “siehst du”- fuhr er fort. Das Rad der Freiheit. Als ich diese Ringe sah, wusste ich sofort, wir mussten sie haben. Als Symbol dafür, dass meine Freiheit nicht mit dem Ja-Wort enden kann.”
Die Geschichte der Ringe kannte ich schon von Julia, aber anders: “Wir hatten bei einem Goldschmied schon Ringe bestellt. Aber dann sah V. in einem Schaufenster diese beweglichen Ringe. Sie waren so schön, so... speziell, wir wussten sofort: das waren die richtigen. Wir riefen unseren Goldschmied an, er hatte den Auftrag nicht ausgeführt. Mit einem kleinen Unkostenbeitrag liess er sich zufriedenstellen.”
Julia nahm einen Job in einer Sprachschule an. Keine Gruppenkurse, aber sie gab Privatstunden. Ihr Spanisch war nicht gut, aber sie konnte Deutsch unterrichten. Und Englisch. Sie scheint von den täglichen Abenteuern ihres Mannes nichts gewusst zu haben, fand es auch nicht seltsam, dass er abends mit dem Lieferwagen, indem ein Doppelbett installiert war, ins Zentrum fuhr. Und morgens nach hause kam. “Er hat mich sehr gern“ – sagte sie mir später – “und er weiss, dass ich sofort weg bin, falls er mich betrügt. Dass er mich nie wieder sieht. Das riskiert er nicht. Ausserdem ist er extrem eifersüchtig.“
Sie hatten einen Hund, der war klein und hatte lange, helle, gewellte Haare. Vicente ging mit ihm immer am Wochenende spazieren und kam spät zurück, weil er im Chinesischen Viertel halt machte, wo man samstags im Pavillon draussen tanzen kann, was er nicht zugab. Julia wusste Bescheid, aber es war ok – tanzen darf man ja. Dann kam die Krise, Vicente wollte in die Schweiz, Julia nicht, da verkauften sie ihr Haus, packten ihr Baby, setzten den Hund aus und flogen nach Zürich. “In der Schweiz darf man keinen Hund in der Wohnung halten.“ – hatte die Schwiegermutter gesagt.
Ob ich ein schlechtes Gewissen hatte? Nein. Ich habe Julia nicht betrogen, ihr Mann tat es. Den Kontakt zu ihr unterbrach ich so vollständig wie möglich, sobald Vicente und ich eine Affäre hatten. Und ich war auch schlau genug, den Frauen keine Schuld zu geben, mit denen er mich, Jahre später, reihenweise, betrog. Was ich natürlich auch erst spät verstand, lange nachdem auch unsere Geschichte mehrere Fassungen bekommen hatte. Denn vorerst hatte ich meine ganze Phantasie und Geisteskraft eingesetzt, um das zu glauben, was ich wollte. Nicht das, was wahrscheinlich war.

Samstag, 23. April 2011

Die schwarze Katze
Teil 1

Wenn man Cuartito Azul Tango untereinanderschreibt, so, dass die Initialien ein neues Wort ergeben, kann man folgendes lesen: CAT. Das war mir November 2011 aufgefallen, als ich ein neues Logo suchte. Aber die schwarze Katze war schon lange vorher im Cuartito anwesend. Fast von Anfang an.

Es war so: Sobald der Boden gelegt war (das ist eine andere, lange, wunderschöne Geschichte), haben wir die Wände mit Pavatexplatten beklebt und blau gestrichen. Türkisblau, in vielen Untertönen. Die Farbe gemischt aus weisser Dispersion, verschieden blauen Pasten (Acryl, Tempera und was gerade günstig im Hobymarkt zu bekommen war) und Lumigreen, einem faszinierenden, leuchtend gelbgrünen Pigment, das ich für Seife gekauft hatte (und das seinen Weg in alles mögliche hineingefunden hat - Bademilch, Shampoo, Blumenwasser, Cuartito-blau - nur noch nicht in Seife :)

Auf diesem blauen Hintergrund sollten Tangotexte und Zeichnungen kommen, und sie sollten irgendwann wieder übermalt werden - so wie Wortfetzen an Hausfassaden, die von einem nachlässigen Maler in ungefährem Ton mit grobem Pinsel überdeckt werden.

Sobald alles blau war, kritzelte ich ungeduldig und ohne Wasserwage den ersten Text hin, über vier m2 hinweg, und er sah so schrecklich aus, dass er ohne trocken zu werden seinem vorbestimmten Schicksal entgegeneilte: er wurde übermalt. Man erkennt nur noch ganz wenig davon. Ein Künstler musste her, und ein Konzept. 

"Blau sieht aus wie Himmel" - sagte mein Bruder - "wir malen also bunte Paradiesvögel." Die sollten in weissen Wolken-Sprechblasen Tangotexte rezitieren, und damit es nicht zu friedlich werde, würden unten schwarze Katzen lauern.

Ich war begeistert. Die Katze hat eine besondere Bedeutung - die Eleganz. Pferde sind auch elegant. Aber anders. Die Eleganz im Tango ist die einer Katze. Nicht eines Pferdes. Pferde gehen auf den Zehen. Katzen federn ab, auf dem Ballen. Wer sich das deutlich vorstellt, tanzt augenblicklich besser.

Und dann ist noch was. Die schwarze Katze ist sexy. Irgendwie böse. Ein Geschöpf der Nacht. In vielen Tangos wird die unschuldige Schönheit vom Lande von der Jungs der Nachtwelt verführt. Und verdorben. Im Cuartito lauern die schwarzen Katzen auf die bunten, zwitschernden, herumfliegenden Vögel.

Ende 2009 war die Wanddekoration fertig. Im darauffolgenden März hatte es die Katze auf den Flyer geschafft.

Freitag, 22. April 2011


DANZA MALIGNA
aus dem Spanischen nacherzählt von Jeanne Kaszian

Nacherzählen. Aber wie? Ich habe eine Geschichte gelesen, die hätte mein sein können. Darum stehle ich sie nicht. Und auch darum nicht, weil sie verloren geht, wenn ich sie nicht wieder erzähle. Sie vermodert wahrscheinlich in einem Büro in Buenos Aires, in einem Umschlag mit einem Namen und einer Nummer darauf. Eine Nummer, die sie vor Diebstahl schützt, bevor sie veröffentlicht ist. Aber Joelle ist wahrscheinlich auch verschwunden, falls es sie denn je überhaupt gegeben hat. Und die Nummer allein ist wertlos.
Es ist die Geschichte von Esteban, und auch die von Ines, und von Joelle, und obwohl es die gleiche Geschichte ist, ist sie drei Mal anders. Was ich am wenigsten weiss, ist wie ich den ersten Teil erzählen soll. Joelle schreibt so, wie es ist. Aber das kann ich nicht. „Gewisse Sachen macht man, man schreibt nicht darüber.“ Hat einer mal gesagt. Stimmt nicht. Ich erkläre gleich, wieso nicht. Aber in einem hat er recht. Man schreibt nicht darüber. Keiner hat es geschafft, sinnvoll darüber zu schreiben. Vargas Llosa hat es versucht. Grässlich. Dafür hätte man ihm den Literaturnobelpreis wieder wegnehmen sollen.
Es gab eine Zeit in meinem Leben, da gab es Wörter dafür. Nicht auf Deutsch, die Sprache ist völlig ungeeignet für alles, was körperliche Liebe beschreibt. Meine Liebessprache war Spanisch. Aber mit allen diesen Teilsprachen verhält es sich gleich: sie gehören einem nur, solange man in ihnen lebt. Und sie taugen als Schriftsprachen nicht, weil andere sie nicht verstehen. Ich meine damit: wenn ich eine Geschichte über einen Architekten schreibe, muss ich zwar erklären, was er macht. Aber es bringt nichts, wenn ich mit Begriffen aus Statik und Vektorenrechnung hantiere, denn die sind für andere wertlos.
Darum ist es so schwierig, über einen Liebeskünstler zu schreiben. Damals, als ich mit einem zusammenlebte, waren mir all die Wörter geläufig, sie hatten keine anrüchige Bedeutung, klangen nicht schmuddelig oder vulgär. Und ich denke, das war die Überlegung von Joelle: sie schreibt, wie es ist, nennt die Sachen beim Namen und gibt ihnen so die Selbstverständlichkeit, die Wörter haben müssen, um konkret zu sein. Aber es geht nicht auf. Oder... ich kann es nicht. Weil ich die Selbstverständlichkeit verloren habe. Wie so viele andere Welten und Wirklichkeiten in meinem Leben.
Es stimmt nicht, sagte ich, dass jeder es tut. Das, was durchschnittliche Leute tun, zwei Mal die Woche, oder wahrscheinlich seltener, ist belanglos. Esteban, dagegen, lebte darin. Es gab in seinem Leben nichts anderes.
Wie erzählt man eine Geschichte nach? Eine Geschichte, die mich so sehr betrifft, weil sie meine sein könnte. Und die so unwirklich ist, weil sie drei Mals anders ist? Wie geht man mit einem Text um, der ständig auf sich selbst verweist, und mit Wirklichkeiten, die so oft ineinander und auseinander gehen, dass es keine Rolle mehr spielt, was real ist, und was nicht?

Donnerstag, 21. April 2011


Aus der Reihe: Das politisch inkorrekte Leben von dekadenten Paradiesvögeln:




Die hässliche Frau mit schwarzen Haaren

eine Geschichte von Joelle K.



Anetta ist Dekorateurin bei Falabelli, Anetta heisst sie, nicht Anette, das ist Italienisch, sie hat auch einen italienischen Nachnamen, sie weiss, man sieht es ihr nicht an. "Dekorateurin bei Falabelli ist sie" - sagt Esteban, und fügt hinzu: "die werden sehr gut bezahlt." Er könnte auch sagen: "sie ist bei der NASA", ohne etwas im Gesichtsausdruck oder Tonfall zu ändern. Aber Anetta ist eine liebe Freundin. Eine tolle Frau. Und sie hat das ganze Schaufenster an der Gertrudstrasse 10 bemalt, alles hat sie allein geschrieben und verziert, in vielen, bunten Farben: “El Abrazo” steht jetzt gross auf dem Hauptfenster, in Azurblau mit weissen Schattierungen und darunter steht dick und rot “Tangoschule”, auf der Türe liest man “Tanzschuhe”, in gelb und um alles herum schlingen sich hellgrüne Ranken mit weissen und rosafarbenen Blüten. Anetta hat ein Auge dafür. Sie hat das Design selber entworfen, und dann, an vielen freien Nachmittagen, – sie hatte zum Glück viele freie Nachmittage – hat sie, Farbfleck nach Farbfleck, alles aufs Glas gebracht. Wenn sie nicht gewesen wäre… nein, darüber mag man nicht nachdenken.

—Wieviele Stunden? – frage ich.

—Weiss ich nicht – sagt Esteban.- Viele.

—Ja, aber wenn du ihr als Gegenleistung Tanzstunden geben willst, musst du wissen, wie viele.

—Spielt keine Rolle. -Sagt er.- So viele, wie sie braucht.

—ja, aber…

—Kein aber. Wenn sie nicht gewesen wäre… solche Designer, man kann sie nicht bezahlen. Und dann eine von Falabelli, nicht irgendeine.

Ach so. Mein Cousin kommt auch gratis in den Tanzkurs. Mein Cousin hat kein Schaufenster bemalt, er malt nur Bilder. Keine davon hängen im “Abrazo”, also sind seine Malkünste im Gegensatz zu denen von Anetta in diesem Zusammenhang nicht von Nutzen. Ich hab ihn eingeladen, weil er sich kürzlich von einer bösen Frau getrennt hat, und am Donnerstag Abend kommen viele liebe Mädchen Tango tanzen. Das ist der Deal. Mein Cousin gegen Anetta. Die vielen lieben Mädchen finanzieren ihn.

Zwei Tage vor Kursanfang kommt Anetta auf eine Besprechung vorbei. Eher gross, dunkle, glatte Haare. Helle Haut. Sie trägt einen schwarzen Mantel und einen sehr bunten, langen Halstuch. Stiefel ohne Absatz. Schwarze Strümpfe. Schwarze Bluse. Pinkfarbenen, knielangen Rock. Sie ist erkältet.

—Schau mal -sagt Esteban und hält ihr ein Karton mit Stoffmustern entgegen.- Ich dachte, gelb für die Tischtücher, aber du musst es sagen. Oder vielleicht blau? Oder – hast du eine andere Idee?

Anetta sagt nichts. Sie schaut. Schaut sich, langsam, den Raum an. Vor dem Schaufenster und hinten, vor dem Durchgang, hängen rote Samtvorhänge, raumhoch. An der Seite eine Holzablage in Tischhöhe, wie eine kleine, sehr kleine Bühne, die die Treppe zum Untergeschoss verdeckt. Die ist auch mit Samt verkleidet, rotem Samt, in Falten geworfen wie die Vorhänge, bis zum Boden. Die Tische sind klein und aus Plastik, die sollen auch verkleidet werde.

—Gelb? -fragt Esteban nochmals und grinst. Anetta sagt immer noch nichts. Sie schaut.

“Gelb!”, denke ich und sage nichts, und denke weiter, “wie kann sie so langsam sein.” Es liegt auf der Hand. Blau ist zu dunkel, grün geht nicht. Orange noch weniger.

—Nein. -Sagt sie.- Zu ähnlich mit dem Eichenparkett. Zu ähnlich und zu anders. Beisst sich. Gelb geht nicht. Rot. Die Tischtücher müssen auch rot sein. Wie die Vorhänge.

Ich werfe einen Blick durch den Raum. Verdammt. Sie hat Recht. Vollkommen Recht. Gelb wäre schrecklich. Rot ist die einzige Farbe, die geht. Dann ist alles rot, sehr viel rot. Aber weil alles rot ist, in gleichem Stoff, hängt es zusammen. Ein Element, eine Textur, eine Farbe. Natürlich. Der Raum ist nicht gross, eine Tanzfläche, drum herum die kleinen Tische, die bühnenähnliche Ablage mit vielen grünen Pflanzen drauf, gegenüber raumhohe Spiegel, und dann die roten Vorhänge. In der Mitte eine rechteckige Säule, die wird auch mit Spiegeln beklebt. Eine neue Farbe für die bodenlangen Tischdecken geht nicht. Anetta spricht, Esteban grinst und ich denke: “sie ist gut.”

Etwas fehlt noch am Schaufenster, sie kommt, sobald es draussen wärmer wird. Und dann, die Tanzstunden, die Gegenleistung. Sie kommt in den Gruppenkurs, braucht keine Privatstunden. Sie nimmt ihren Tanzpartner mit, der zahlt, natürlich. Und zwei weitere Paare. Sie will nur nicht zu den Anfängern, sie hat schon so oft angefangen, will nicht noch mal.

—Kein Problem -sagt Esteban lachend- du wirst eine grosse Tänzerin.

Und ich denke “Ja, kein Problem, wieso denn auch – gross bist du schon. Und Tänzerin – dafür ist es zu spät. Auf das Kursniveau kommt es nicht an.” Dann schaut sich die erkältete, pinkberockte, flachbestiefelte Anetta mit den dicken Baumwollstrümpfen noch mal langsam um, sie will ihre Arbeit gut machen, auch wenn sie nicht bezahlt wird, notiert sich alles genau in ihr kleines schwarzes Notizheftlein mit Gummiband. Sie arbeitet für mittelklassige Kaufhäuser, nicht für die NASA. Grosse Tänzerin? Das hat Esteban gesagt. Anetta möchte ein paar Tanzschritte lernen. Bloss nicht die fünf, die sie schon drei Mal gelernt hat, weil sie drei Mal in einen Anfängerkurs ging.

—Komm am Donnerstag -sage ich in plötzlicher Rührung.- Das ist eine tolle Gruppe. Dann macht ihr bestimmt schnell Fortschritte

Anetta bedankt sich herzlich, sie freut sich, und ja, bis am Donnerstag ist sie vielleicht nicht mehr erkältet. Sie packt das kleine Notizheftlein ein, zieht den schwarzen Mantel über, schlingt sich den Schal um den Hals und geht in die Kälte.

Ich denke an Jorgito, den alten, berühmten Tänzer, der letzten Sommer mit mir unterrichtet hat. Wir waren eines Abends in einer Provinzhauptstadt, die hatten eine kleine Milonga, da tanzten wir vor. Die zehnköpfige Tangogemeide war begeistert. Danach setzten wir uns, die Leute tanzten, der DJ versuchte sich nicht lächerlich zu machen, fragte zuweilen, was er auflegen sollte. Da zeigte mir Jorgito ein altes Paar, das sich mit drehenden Hüftbewegungen auf dem Parkett bewegte.

—Schau mal -sagte er- sie versuchen, das zu tun, was wir gerade taten. Aber ihre Hüfte schaffen es nicht. -Klatschte mir eine aufs Bein und lachte. Ich schaute ihn an.

—Lieber Jorge, ist es dir klar, dass wir nichts anderes tun? Aber gar nichts anderes, den ganzen Tag? Du, seit sechzig Jahren. Ich… seit einer Weile. Diese Leute, die haben Enkelkinder. Hund und Katze. Freunde. Vielleicht arbeiten sie sogar noch. Am Nachmittag gehen sie einkaufen. Die Frau kocht. Wenn alle gegessen haben und die Enkelkinder schlafen, gehen sie tanzen. Falls es Samstag Abend ist. Vielleicht jeden Samstag. Vielleicht nur alle paar Wochen. Dann tun sie die paar Schritte, die sie im Kurs gelernt haben und freuen sich. Wenn jemand aus Buenos Aires da ist, jemand, den sie bei genauem Hinschauen auf den alten Bildern erkennen, die an der Wand hängen, freuen sie sich noch mehr. Vielleicht erzählen sie sogar mal ihren Freunden was davon. Aber mehr ist es nicht. Es ist nicht ihr Leben. Sie wollen nicht das tun, was wir gerade taten.

Jorgito verstand es nicht. Kann man sich etwas anderes wünschen, als ein grosser Tänzer zu sein? Esteban versteht es auch nicht. Und ich? Ich verhöhne Anetta, weil sie die Chance verpasst hat. Frage mich gar nicht, ob sie es je gewollt hat.

Mein Cousin kommt auch donnerstags. In den gleichen Kurs, mit der tollen Gruppe. Aber er, er bekommt bald Privatstunden. Mit dem Mädchen seiner Wahl. Damit sie sich näher kommen. Jede würde gern. Privatstunden sind sonst teuer. Mein Cousin kann sich nicht entscheiden. Da ist die zierliche, hellblonde Klara, die tanzt schön. Aber sie ist sicher vergeben, sagt er. Oder Caroline, die Italienerin, die früher Salsa tanzte. Sie hat die schönsten Schuhe und ein hübsches Gesicht. Aber sie hat ein paar Goldzähne, sagt mein Cousin. Goldzähne? Wir lachen beide, das geht nicht. Dann vielleicht Linda, die Deutsche. Sie ist ein bisschen rund und tanzen? Wird sie nie lernen. Aber sie hat lange, blonde Haare, ein nettes Gesicht und strahlend blaue Augen. Sie spricht wenig und bedacht in hoher, freundlicher Stimmlage und ist immer einverstanden. Was will man sonst?

Ich würde also am Donnerstag Linda beiseite ziehen und ihr sagen: “Linda, mein Cousin wird einige Privatstunden nehmen, bei mir, und er braucht eine Tanzpartnerin. Ich habe an dich gedacht. Magst du? Du musst nichts zahlen.”

Der Plan geht aber vorerst nicht auf. Esteban und ich, wir haben uns wieder einmal gestritten. Leider habe ich es versäumt, den Ablauf der Kurse vertraglich und schriftlich festzuhalten, vor dem Streit. So liegt zur Zeit alles in der Luft. Esteban will eine Woche Pause. Der Saal gehört ihm. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn die Kurse diese Woche alleine geben zu lassen. Zu hoffen, dass er es schlecht macht. Dass man mich vermisst. Und dann, sobald wir uns wieder versöhnen, den Vertrag aufzusetzen. Esteban wird vor dem Kurs erklären, wieso ich fehle. Er wird anbieten, das Kursgeld zurückzuzahlen, falls jemand mit den Umständen nicht einverstanden ist. Er wird noch sagen, dass wir uns bis nächste Woche entscheiden, ob wir in Zukunft doch zusammen unterrichten oder nicht. Mein Cousin wird dabei sein und mir alles berichten.

Am nächsten Tag rufe ich ihn an und frage alles genau. Zuerst, ob etwa Martha dabei war, die schielende Deutsche, die Esteban als Hilfslehrerin geholt hatte, als ich nicht da war. Die hatte ich sofort gehen lassen als ich zurück kam, versteht sich. Ist schon lange her, aber man weiss nie. Martha war nicht da. Esteban hat allein unterrichtet. Ohne System, aber nicht auffallend schlecht. Nur, dass er niemanden hatte, um vorzutanzen. Er kümmerte sich um jedes Paar, einzeln, es war in Ordnung.

—Und? -frage ich.- Was hat er gesagt? Hat er was erklärt?

—Ja… -sagt mein Cousin.- Aber nur ganz kurz, am Schluss. Er hat gesagt, dass ihr euch getrennt hat, und dass er traurig ist…

—Und, in welcher Sprache? Auf Deutsch?

—Nein, Spanisch. Jemand hat übersetzt. Eine Frau, die Spanisch konnte.

Ich sehe in einem Augenblick alle meine Feindbilder vorbeiflanieren.

—Wer denn, wie hiess sie?

Er weiss es nicht.

—Denk nach, wie sah sie aus?

—Ach, ja… -Mein Cousin erinnert sich. Er lacht.- Eine ganz, ganz hässliche Frau, mit schwarzen, glatten Haaren.

Ich denke nach. Dann, plötzlich, weiss ich es. Es gibt nur eine mit schwarzen, glatten Haaren. Ich konnte sie nicht ausstehen, weil Esteban fand, sie sei eine tolle Frau. Und weil er ihr vorgelogen hatte, sie würde eine grosse Tänzerin werden. Später lud ich sie in den besten Kurs ein, weil doch alles nicht ihre Schuld war. Und jetzt? Jetzt freue ich mich und frage mich zugleich, wie das wäre, wenn jemand mich beschreiben müsste, und das einzige, was ihm einfiele, wäre “eine ganz, ganz hässliche”. Und dazu meine Haarfarbe.

Dann denke ich aber weiter, dass Anetta vielleicht das Glück hat, ausserhalb dieser Scheinwelt zu leben. Dass sie vielleicht nicht nur keine Tänzerin werden will, sondern womöglich auch nicht jeden verfügbaren Augenblick vor dem Spiegel verbringt. Dass sie sich wahrscheinlich bemüht, nett anzuziehen, aber sich nicht immer und ununterbrochen mit jeder Frau vergleicht, die in der Nähe ist, und davor zittert, dass eine einmal hübscher sein könnte. Vielleicht mag sie ihre Arbeit, vielleicht tut sie auch sonst Sachen, die ihr Spass machen, und worin sie einen Sinn sieht. Und vielleicht wird sie morgen einen schönen, erfüllten Tag haben, während ich versuchen werde, aus folgendem Gespräch mit Esteban ein bisschen sinnlose Befriedigung zu holen:

—Hast du am Dienstag mit den Leuten gesprochen? -werde ich fragen.

—Ja. -Wird er antworten.

—Und, auf welcher Sprache? Hast du’s geschafft, auf Deutsch?

—Nein, auf Spanisch. -Wird er sagen.

—Und, wer hat übersetzt?

Er wird nachdenken

—Ach ja, die Dekorateurin. Anetta.

Ich werde schmunzeln. Er wird mich fragen, wieso. Ich werde es ihm nicht gleich sagen. Er wird beharren.

—Na ja, nur, weil ich meinen Cousin gefragt habe…

—Und?

—Er wusste nicht, wie sie heisst. Er meinte bloss, eine ganz, ganz hässliche Frau mit schwarzen Haaren.

Mittwoch, 20. April 2011


Mein erster Kontakt mit dem Tango war in New York. In Belle Epoque, da tanzte man an jenem Abend ausnahmsweise Tango statt Swing. Ich fand es schrecklich. Wollte meinen Partner überzeugen, “europäischen Tango“ mit mir zu tanzen. Er wollte es nicht. Zum Glück nicht.

Der zweite Kontakt war Liebe auf den zweiten Blick. Hab nie wieder meine ursprüngliche Disziplin (Standard und Latein), sondern nur noch Tango getanzt. Mein damaliger Lehrer wurde in drei Monaten zu... mehr. Von ihm bekam ich in den folgenden vier Jahren – schöne, aber sehr stürmische Jahre – vieles mit. Vor allem die Sprache – Spanisch in seiner lokalen Buenos Aires –Färbung – und die Musik. Unzählige Anekdoten und Hintergrundwissen über die Orchester, die er teilweise noch live erlebt hat. Als dreizehnjähriger Junge hatte er für Goyeneche dessen Lieblingsspeise zubereitet: Selleriestengel mit Roquefort und je einer Baumnuss. Dazu viel Cognac, versteht sich. “Junge, ich zeige dir, was du mir bringen musst...“ – so machte er mit tiefer, heiserer Stimme den grossen Sänger nach, den man “el Polaco“ nannte. Und der Taxifahrer war , und nur durch Zufall zu seiner Karriere kam. Solche Geschichten kann man im Internet nicht nachlesen. Und wenn, haben sie nicht den gleichen Stellenwert. Ich bin meinem damaligen Partner und ersten Tangolehrer sehr dankbar, denn er hat mir eine Welt vermittelt, in die man ansonsten nur hineingeboren wird.

Zum Tango gehört neben Musik und Tanz auch die Poesie. Wir lieferten uns verbitterte Wettkämpfe: einer fing mit einer Strophe an, der andere musste die nächste Strophe rezitieren.  Er hatte sich die Texte in unzähligen Nächte in Buenos Aires gemerkt, auf dem ewigen “circuito“ in den Milongas, der meistens nachmittags in Maipu 444 anfängt und um sechs Uhr morgens in der Viruta endet. Ich, in Wettkampf mit ihm. Nicht ahnend, dass ich eines Tages auch dem circuito verfallen würde.

Ab 2007 war ich zwei Mal jährlich in Buenos Aires, um mich in Tanzen und Unterrichten ausbilden zu lassen. Ich staunte immer wieder darüber, was gute Pädagogen mit ihren Schülern machen können. Besonders geprägt wurde ich tänzerisch von Elina Roldán, Angel Coria, Aurora Lubiz, dem Flaco Dany und in letzter Zeit von Guillermina Quiroga. Didaktisch hat mich vor allem Angel beeindruckt: er kann mit einer Schülergruppe Sequenzen einstudieren, von welchen ich anfangs denke: no chance! Und doch! Und das beste dabei ist: die Schüler verinnerlichen die zugrundeliegende Technik und bauen die neuen Schritte locker in ihr Repertoire ein. Wie geht das? In den vielen Jahren, in denen ich alleine oder mit verschiedenen Partnern arbeite, habe ich für mich diese Antwort gefunden:

      Man muss sehr systematisch arbeiten. Improvisieren kann man auf der Tanzfläche. Nicht im Unterricht.
      Man muss ein klares Ziel haben. Meines ist die Freude am Tanzen. Die Schüler haben dann Spass daran, wenn es völlig mühelos ist, schwebend, wie Fliegen. “Push and pull“ macht nicht süchtig. Schönes Tanzen schon.
      Gewisse Details sind wichtig, andere nicht. Zuschauen können und erkennen, wieso etwas nicht klappt, und was genau geändert werden muss, ist von zentralster Wichtigkeit. Die Freude, die ein Pärchen verspürt, das seit fünf Jahren erfolglos Volcadas versucht in dem Moment, wo es endlich klappt, steckt an.
      Man soll, glaube ich, seine Schüler lieben. Ich tue es, von ganzem Herzen.  Letztes Weihnachten haben sechs meiner Pärchen in einem Altersheim vorgetanzt. Die Frauen in rotem Kleid, die Männer ganz in schwarz. Als sie, ein Paar nach dem anderen, zu Fresedos Musik ins Rampenlicht traten, bekam ich Gänsehaut. Sie waren alle, von sechzehn bis sechzig, meine Babies. Ich war unendlich stolz.
“Cuartito Azul“ heisst der Tango, indem sich ein junger Mann vom blauen Zimmer (cuartito azul) verabschiedet, das die Träume seiner Jugend beherbergt hat. Er verabschiedet sich, um in die weite Welt zu ziehen, auf der Suche nach Erfolg und Anerkennung, und weiss gleichzeitig: er wird nie wieder so glücklich sein, wie hier.

“Cuartito Azul hiess eine Milonga in Buenos Aires“, hatte mir mein damaliger Tanzartner erzählt. “Pepito Avellaneda hatte sie geführt.“ Ob das stimmt, kann ich nicht überprüfen. Es ist eine der vielen Anekdoten, die er mir in den vier Jahren zusammen (mehr oder weniger zusammen :) mit auf den Weg gegeben hat.

“Cuartito Azul wird das Lokal heissen, das ich eröffnen werde.“ – das dachte ich in 2009, als es klar wurde, dass ich mich von meinem Tanzpartner trennen würde. Ich würde ein kleines Zimmerchen mieten und blau streichen und es “Cuartito Azul“ nennen. Denn der Tango ist nicht nur schwarz und rot, wie so oft in Europa. Tango hat alle Farben. Und für mich, vor allem blau.

Es wurde nicht ein kleines Zimmer, sondern eine grosse Halle und eine der grössten Tanzflächen in Zürich. Unser Ehrgeiz ist, euch den Tango so beizubringen, dass ihr problemlos auch in Buenos Aires tanzen könnt und nicht wie viele Touristen verschämt am Rand sitzen müsst. Oder die halbleeren, zweitklassigen Milongas besucht, weil ihr im “Beso“ oder “Canning“ von der Tanzfläche wegschikaniert werdet.

Unser Hauptgewicht liegt  auf  “Tango de Salon“ – elegant, dynamisch, mit langen Schritten und präzisen Drehungen.  Wir unterrichten aber auch “Tango Milonguero“ – enger, verspielter und besonders rhythmisch. Und natürlich auch Vals und Milonga – alles in geschlossener Umarmung. Dazu gibt es Spanischkurse – denn für ein vollständiges Verständnis dieses Tanzes gehört es mit dazu, seine Poesie zu verstehen.